Psychosomatik: Wie sich Körper & Psyche gegenseitig bedingen
Die Psychosomatik ist in der westlichen Medizin eine vergleichsweise junge Wissenschaft. Sie beschäftigt sich unter anderem mit somatoformen Störungen und wie sich soziale sowie seelische Faktoren – wie Stress, Angst, Depressionen oder Unruhe – auf die Gesundheit des Organismus auswirken. Von Betroffenen wird die Psychosomatik leider meist zu lange missverstanden.
Gerade die westliche Medizin, wie wir sie in unseren Breiten kennen, war lange Zeit von einem äußerst strikten, linearen Kausalitätsprinzip geprägt. In diesem wurde – vereinfacht ausgedrückt – von Ärztinnen und Ärzten vorwiegend nach der einen organischen Ursache für bestimmte körperliche Symptome gesucht. Ein Ansatz, den diverse traditionelle Heilbehandlungen sowie auch zum Beispiel die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) nicht verfolgten, da in zahlreichen historischen Therapieansätzen das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele seit jeher als ganzheitliches System betrachtet wird. Diese ganzheitliche Krankheitslehre findet im Zuge des Wissenschaftsgebiets der Psychosomatik heute auch zunehmend Einzug in die evidenzbasierte Medizin.
Was genau versteht man unter Psychosomatik?
Das Wort „Psychosomatik“ setzt sich aus den altgriechischen Wörtern für Psyche (Seele) und Soma (Körper) zusammen. Die Psychosomatik untersucht dabei, wie sich körperliche, psychische und auch soziale Faktoren eines Menschen beim Entstehen einer Erkrankung wechselseitig beeinflussen. Sie ist damit ein zunehmend an Bedeutung gewinnendes Forschungsfeld. Glücklicherweise, wenn man bedenkt, was die Wahrnehmung der österreichischen Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner zeigt: Sie schätzen den psychosomatischen Behandlungsbedarf ihrer Patientinnen und Patienten auf bis zu 40 Prozent aller von ihnen Untersuchten ein.
Geschichte der Psychosomatik
Während das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele in vielen traditionellen Heilverfahren oder auch in modernen komplementärmedizinischen Behandlungsformen wie der Homöopathie als grundsätzliche Voraussetzung für die passende Therapie betrachtet wird, ist der psychosomatische Ansatz in der evidenzbasierten Medizin ein vergleichsweise junger. Zwar beschäftigten sich bereits die Philosophen der Antike mit der Frage nach den Wechselwirkungen von Körper und Seele und auch in weiterer Folge taucht in der Medizingeschichte die Frage nach einem Zusammenspiel von Organismus und Psyche mehrfach auf. Aber eine wissenschaftliche Annäherung an das Feld der Psychosomatik findet sich hingegen erst mit der Entstehung der Psychotherapie ab dem Ende des 19. Jahrhunderts. Mittlerweile kommt der Psychosomatik eine wichtige Rolle in der Medizin zu. Die Wichtigkeit des Forschungsgebietes zeigt sich auch darin, dass – wie weiter oben erwähnt – bei über einem Drittel der bei Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmedizinern Behandelten die biosoziale Wechselwirkung ihrer körperlichen Symptome bei der Therapie mit berücksichtigt werden müsste. Es dauert allerdings oft Jahre und bedeutet für Betroffene häufig unzählige Arztbesuche, bis sie in einer Psychotherapie die Hilfe bekommen, die es zusätzlich zur organischen Behandlung in so vielen Fällen benötigt. Dies liegt nicht nur an den zu geringen Kassenplätzen für psychotherapeutische Behandlungen, sondern oft auch an der Missverständlichkeit des Begriffs „Psychosomatik“ selbst, wie der folgende Punkt zeigt.
Warum wird Psychosomatik häufig missverstanden?
Für psychosomatisch Erkrankte ist der Begriff „Psychosomatik“ häufig ein rotes Tuch, das nur allzu verständlich ist. Denn „psychosomatisch“ wird oft mit dem Begriff „eingebildet“ gleichgesetzt. Psychosomatische Erkrankungen sind allerdings keinesfalls eingebildet, sondern gehen zum Teil mit intensiv spürbaren körperlichen Symptomen, wie Schwindel, Herzrasen oder bisweilen starken Schmerzen einher, die durchaus real sind. Die Sehnsucht der Betroffenen nach dem Auffinden der Ursache und die damit einhergehende Hoffnung einer raschen Besserung durch den Einsatz des richtigen Medikaments ist damit eine enorme. Wird Betroffenen eine Psychotherapie nahegelegt, fühlen sie sich gelegentlich als psychisch krank bzw. als eingebildeter Kranker abgestempelt und fürchten, dass sie nicht ernst genommen werden. Dabei hat eine psychosomatische Erkrankung nichts mit den genannten Punkten zu tun, sondern in der Psychotherapie wird den Symptomen insofern auf den Grund gegangen, dass ursächliche Auslöser genauso in den Blick genommen werden, sowie Lebensumstände und seelische Faktoren, die die Erkrankung begünstigen, verstärken oder auch aufrechterhalten.
Wie entstehen psychosomatische Erkrankungen?
Eine exakte Entstehungsgeschichte für psychosomatische Erkrankungen gibt es nicht. Denn ihre Entstehungsgeschichten sind so individuell wie die Betroffenen selbst. Wenn man bedenkt, dass sich die psychosomatische Betrachtungsweise einer Erkrankung sowohl auf die sozial individuellen Lebensbedingungen wie Wohnsituation, Familien- und Beziehungssituation richtet, als auch lebensgeschichtlichen Ereignissen, Traumata und psychologische Faktoren wie die eigene Resilienz mit einbezieht, wird deutlich, warum es DIE eine Entstehungsgeschichte nicht gibt. Eine wissenschaftlich fundierte psychosomatische Begutachtung ist damit auch weit entfernt von diversen spirituellen Lehren, die davon ausgehen, dass sich ein bestimmtes Gefühl oder „Thema“ auf einer bestimmten Körperregion widerspiegeln muss. So kann es zwar beispielsweise sein, dass sich das Thema „innerer Stress und Druck“ bei einer Person immer wieder als Fieberblase somatisiert. Daraus lässt sich aber keineswegs seriös ableiten, dass Fieberblasen immer ein Hinweis auf „inneren Druck“ bei allen Menschen sind.
Beispiele für Faktoren psychosomatischer Erkrankungen
Die Psychosomatik beschäftigt sich sowohl mit somatoformen Störungen, also Symptomen ohne medizinischen Befund, als auch mit diagnostizierten Erkrankungen, deren Verlauf und Ausprägung durch biopsychosoziale Faktoren mitbestimmt werden. Das zeigt deutlich, dass Psychosomatik nichts mit Einbildung zu tun hat. Denn so kann beispielsweise auch ein Herzinfarkt in bestimmten Fällen als psychosomatische Reaktion gelten. Betrachtet man die Risikofaktoren für einen Herzinfarkt wird das biopsychosoziale Zusammenspiel anhand eines fiktiven Beispiels deutlich.
Nehmen wir einen Mann Mitte 50. Er lebt nach einer stressbehafteten Scheidung unfreiwillig alleine. Aufgrund seiner unausgewogenen, den unregelmäßigen Arbeitszeiten geschuldeten, ungesunden Ernährung ist der Mann seit Jahren übergewichtig, was ihm die Freude an der Bewegung verleidet. Seit seiner Jugend ist der Mann starker Raucher. Der enorme Stress in seiner Arbeit macht es ihm unmöglich, mit den Zigaretten aufzuhören. Seit gestern Abend kämpft der Mann mit Atemnot, Schlafproblemen und einer für ihn ungewöhnlichen Erschöpfung. Er verdrängt diese Anzeichen völlig. Sie machen ihm zwar kurz Angst, er denkt daran, in die Ambulanz zu fahren, aber in seiner Kindheit hat er ständig gehört, dass „Männer keine Angst zeigen dürfen.“ Aus diesem inneren Skript heraus verzichtet er auf den Besuch bei einem Arzt und erleidet im Laufe des Tages einen Herzinfarkt.
Wie wäre es dem Mann ergangen, hätte er einen weniger stressigen Job? Wie wäre es ihm ergangen, wenn er in ein Familiensystem eingebettet wäre, indem besorgte Familienmitglieder zur Vorsorgeuntersuchung drängen? Was wäre gewesen, wenn er sich durch ein weniger zeitintensives Arbeitspensum mehr Zeit für Bewegung und gesunde Ernährung genommen hätte? Oder wenn er prinzipiell sehr zufrieden mit seiner Lebenssituation gewesen wäre? Was, wenn der Mann damals nicht aus sozialem Gruppendruck heraus mit dem Rauchen begonnen hätte? Was, wenn er anders aufgezogen worden wäre und sich vor einem Arztbesuch nicht gescheut hätte?
All das sind biopsychosoziale Faktoren, die in der Psychosomatik beachtet werden und zeigen, dass es selten nur eine einzige Ursache für Erkrankungen gibt.
Abgesehen von diesem äußerst plakativen Beispiel können auch die folgenden Symptome und Störungen häufig in einen psychosomatischen Zusammenhang gestellt werden.
- Verdauungsprobleme
- Beschwerden des Magens
- Schwindel
- Chronische Entzündungen
- Tinnitus
- Menstruationsbeschwerden
- Herzbeschwerden
- Sexuelle Dysfunktionen
- Infektanfälligkeiten
- Schlafprobleme
- Chronische Schmerzen
Psychosomatik: Abgrenzung zu psychischen und somatopsychologischen Erkrankungen
Die oben genannten Beispiele zeigen bereits, dass Psychosomatik weder zwingend mit psychischen Erkrankungen noch mit hypochondrischen Tendenzen zu tun hat. Eine psychosomatische Erkrankung ist also nicht zwangsläufig auf psychische Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen zurückzuführen, auch wenn diese wiederum körperliche Symptome hervorrufen können. Umgekehrt ist dies übrigens genauso möglich. So können eine anhaltende Erkrankung, Medikamente, eine hormonelle Störung oder eine dauerhafte Schmerzsymptomatik wiederum erheblichen Einfluss auf die Entstehung von psychischen Erkrankungen bedeuten. In diesem Fall spricht man von der Erforschung organischer Beschwerden auf den psychischen Zustand, dem Wissenschaftsbereich der Somatopsychologie.
Wie werden psychosomatische Erkrankungen behandelt?
In der psychosomatischen Medizin geht es um ganzheitliche Ansätze und dementsprechend ganzheitlich sind auch therapeutische Konzepte in der Behandlung psychosomatischer Erkrankungen angelegt. Dabei handelt es sich zumeist um eine Kombination aus der Behandlung der organischen Probleme, sowie um die gleichzeitige Psychotherapie. Weshalb dies so wichtig ist, zeigt sich am Beispiel der Angst. Wer ständig unter Angststrom steht, schüttet unter anderem das Hormon Adrenalin aus, das wiederum zur Verlangsamung der Darmbewegungen und damit zu Verdauungsproblemen führt. Hier geht es in der psychosomatischen Medizin darum, nicht nur das Verdauungsproblem medikamentös zu behandeln, sondern vor allem auch die Angst und ihre Auslöser im Zuge der Psychotherapie zu bewältigen. Psychotherapie im Zuge einer psychosomatischen Medizin kann allerdings auch bedeuten, einen neuen Umgang mit den belastenden Symptomen zu finden und trotz der körperlichen Beschwerden wieder einen Zugang zu Lebensfreude und Lebensqualität zu finden. Hier ist wichtig zu betonen, dass Psychosomatik in der Gesellschaft nicht missbräuchlich dafür verwendet werden sollte, um Patientinnen und Patienten eine Mitschuld am organischen Geschehen zu geben. Die Psychosomatik beschäftigt sich nicht mit einem erhobenen „Hättest du nicht“-Zeigefinger, sondern vielmehr mit der Frage, welche biopsychosozialen Faktoren bei der Heilung der Erkrankung mitberücksichtigt werden sollten, um die Krankheit ganzheitlich zu behandeln.
Verdacht auf psychosomatische Erkrankung: Wohin wenden?
Glücklicherweise finden sich sowohl zunehmend in den Krankenhäusern des Landes eigene psychosomatische Abteilungen als auch immer mehr darauf spezialisierte Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Hier finden Sie in einer nach Bundesländern und Regionen gegliederten Liste des „Netzwerk Psychosomatik Österreich“ einen umfangreichen Überblick über Spezialistinnen und Spezialisten in Ihrer Nähe.
Psychosomatik im Überblick
Hier finden Sie noch einmal die wichtigsten Fakten zur Psychosomatik im Überblick:
Ursache | Die Psychosomatik geht davon aus, dass es nicht die eine einzige Ursache für ein einziges Symptom gibt, sondern dass biologische, soziale und psychische Faktoren ein Wechselspiel bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten bedeuten. |
Traditionell | In vielen traditionellen Heilverfahren werden Körper und Geist seit jeher als sich gegenseitig bedingende Faktoren betrachtet. In der evidenzbasierten Medizin gewinnt diese Betrachtungsweise durch die Psychosomatik zunehmend an Bedeutung. |
Missverständnis | In der Bevölkerung wird der Begriff „psychosomatisch“ leider häufig mit „eingebildet“ gleichgesetzt, weshalb die Motivation für ergänzende Psychotherapie oft eine geringe ist. |
Faktoren | Sowohl unsere biologischen Grundbedingungen als auch unsere sozialen Lebensbedingungen, unsere Persönlichkeit als auch unsere psychische Grundstruktur hat Auswirkungen darauf, wie wir mit Gesundheit und Krankheit umgehen. |
Beispiele | Chronische Schmerzen sowie Entzündungen, Verdauungsprobleme, Herzbeschwerden und Infektneigungen sind beispielsweise häufig in einen psychosomatischen Zusammenhang zu stellen. |
Ganzheitliche Therapie | In der psychosomatischen Medizin werden sowohl organische Probleme als auch psychosoziale Faktoren in den Therapieplan ganzheitlich mit einbezogen, weshalb psychotherapeutische Maßnahmen sehr häufig Teil der Behandlung sind. |
Quelle:
Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz: Psychosomatik: Was ist das? (abgerufen am 22.07.21)
Psychosomatische Versorgung in Österreich, (abgerufen am 22.07.21)